Nautisches Lexikon

Exkurs: Zwölftel-Regel

Allen Ungenauigkeiten zum Trotz: Die Zwölftelregel ist nach wie vor das am häufigsten angewendete Verfahren der Gezeitenrechnung, genauer: Ein Näherungsverfahren, aber oft ein gutes. Ihre Beliebtheit verdankt sie der einfachen Merkregel 1-2-3-3-2-1 und der rechnerischen Einfachheit. Die Zwölftelregel beruht auf der Tatsache, daß eine Gezeitenkurve im Idealfall einer Cosinuskurve entspricht und sich eine Cosinuskurve (zufällig) ziemlich gut mit sechs "Zwölftelschritten" annähern läßt, zwischen denen linear interpoliert wird.

Näherung

Nominelle Genauigkeit

Die nominelle Genauigkeit der Zwölftelregel ist ziemlich gut. Bei dem obigen Diagramm sieht man nur bei 1 und 5 eine kleine Abweichung des roten (Zwölftel-)Punktes von der blauen (Cosinus-)Linie. Die dünne rote Linie stellt die lineare Interpolation zwischen den roten Punkten dar, denn zwischen den roten Punkten nimmt man die Gezeit als gleichmäßig steigend (oder fallend) an. Das entspricht nicht ganz der Realität, aber die Cosinuskurve ist nicht so krumm, daß sie sich nicht durch mehrere Geradenstücke gut annähern ließe. Das folgende Diagramm zeigt die Abweichung (Fehlerhaftigkeit) der Zwölftelregel von der Cosinuskurve in Prozent des gesamten Tidenhubs. Man sieht, daß diese Abweichung nie mehr als 2,5 % beträgt. Bei einem Tidenhub von 3,60 m sind das 10 cm, das ist völlig ausreichend. Das Problem der Zwölftelregel ist auch weniger ihre nominelle Ungenauigkeit, sondern eher, dass man ihren Gültigkeitsbereich verlässt (siehe unten).

Praktische Anwendung

Ziel ist die Bestimmung der Lage der "roten Punkte", also die Uhrzeit (x-Achse) und die Höhe der Gezeit (y-Achse). Bekannt sind diese Werte für den Punkt 0 (Niedrigwasser oben im Bild) und 6 (Hochwasser oben im Bild), Punkt 1 bis 5 wollen wir ermitteln.

Zunächst nimmt man eine Aufteilung von Steig- bzw. Falldauer in sechs gleiche Intervalle vor:
- Im einfachsten Falle gleich einer Stunde (einfach zu rechnen), oder
- Steigdauer und Falldauer werden mit ihrer realen Dauer angesetzt und durch 6 geteilt (komplizierter, aber genauer, falls Steigdauer oder Falldauer deutlich von 6 h abweichen). Eine "Rechenstunde" der so angewendeten Zwölftelregel ist z. B. bei einer Dauer von 6,5 h gleich 65 Minuten (man muß nur das Komma der Dauer in h um eine Stelle nach rechts schieben für die "Rechenstunde" in min).
Anschließend wird der Tidenstieg bzw. -fall durch 12 geteilt, um das Zwölftel zu erhalten.

Einfaches Beispiel: Tidenstieg von 3,6 m bei einer Steigdauer von 6 h. Die Anwendung der Regel liefert:

In der Summe sind das die gesamten 3,6 m.

Realistisches, etwas komplexeres Beispiel: Eines, wie man es den Gezeitentafeln entnehmen könnte (Bezugsort oder Anschlußort). Das rechnet man dann am einfachsten auf einem Schmierzettel.

NWZ 12:31 h, HWZ 18:47 h
NWH 2,4 m, HWH 6,8 m

  1. Berechnung der Basiswerte
    Von 12:31 h bis 18:47 h sind es 6 h 16 min. Je 6 min entsprechen einer Zehntelstunde, das sind also gerundet 6,3 h. Damit ist unsere Rechenstunde 63 min (Komma einfach um eine Stelle nach rechts schieben).
    6,8 m -- 2,4 m = 4,4 m. Das muß man durch 12 teilen. Andere Möglichkeit: Durch 10 teilen und vom Ergebnis noch ein Sechstel abziehen: 4,4 m / 10 = 44 cm, ein Sechstel (etwa 7 cm) davon abziehen, ergibt als Zwölftel 37 cm.
    Gerundet ergibt sich 1/12 = 0,4 m, 2/12 = 0,7 m, 3/12 = 1,1 m.
  2. Aufschreiben der Zeiten
    Man fängt mit der ersten Zeit an und addiert einfach immer 63 Minuten dazu, also 1 h 03 min. Am Ende muß man bei der zweiten Zeit landen (und läßt hier die paar Minuten Rundungsdifferenz, die sich aus der Berechnung der Rechenstunde ergeben haben, einfach unter den Tisch fallen):
  3. Aufschreiben der Höhen
    Man kann von oben rechnen, von unten oder von beiden Seiten und sich in der Mitte treffen. Die letzte Spalte ist hier nur der Anschaulichkeit halber aufgeschrieben, um die Differenzen zu verdeutlichen.
    Test:
    Auf jeden Fall muß die mittlere Höhe genau in der Mitte von HWH und NWH liegen, sonst hat man einen Fehler gemacht. Hier liegt 4,6 m genau in der Mitte zwischen 6,8 m und 2,4 m.

Damit hat man mit wenig Aufwand die wichtigsten Punkte der Gezeitenkurve für die aktuelle Situation ziemlich genau berechnet. Innerhalb einer Rechenstunde nimmt man an, daß das Wasser linear steigt, also z. B. linear 0,7 m in den zweiten 63 min. Das ist gut 1 cm pro min. Damit kann man dann auch Zwischenwerte berechnen, und immer daran denken: Auf 10 cm mehr oder weniger kommt es nicht an. Das bedeutet nicht, daß man von vornherein schluren soll, aber man kann die Kirche im Dorf lassen.

Gültigkeitsbereich

Die Zwölftelregel geht davon aus, daß der Tidenstieg/Tidenfall einer reinen Cosinuskurve gehorcht. Wenn diese Voraussetzung halbwegs erfüllt ist (und häufig ist sie das, vor allem an Orten nahe an tiefem Wasser, z. B. Dover), dann ist das Verfahren ziemlich genau. Speziell an Orten mit flachem Wasser (Watt) oder hinter Engstellen (Durchfahrten, Seegatten, Flüsse, ...) sorgt die Reibung am Grund für Abweichungen von der Cosinus-Form, z. T. recht drastisch. Die Kurve kann mitunter völlig "verbeult" sein oder mehrere Niedrigwasser oder Hochwasser kurz hintereinander aufweisen.

Es gibt erfreulicherweise einen einfachen Test, der einem eine Aussage darüber gibt, ob eine Cosinuskurve vorliegt, und auch eine Abschätzung über die Abweichung ermöglicht, falls nicht. Der Test ist getrennt für Flut und Ebbe der Tidenkurve anzuwenden:

Man verbindet HW und NW auf der Tidenkurve mit einer geraden Linie (rot und grün im Bild unten). Wenn diese Linie nach der halben Steig- bzw. Falldauer die Tidenkurve auf der halben Höhe schneidet, hat man allen Grund anzunehmen, einer ausreichend harmonischen Schwingung gegenüberzustehen, um die Zwölftel-Regel gut anwenden zu können. Liegt die Tidenkurve nach der halben Steig- bzw. Falldauer über oder (seltener) unter der halben Höhe, kann man die Abweichung an dieser Stelle als ungefähres Maß für die maximale Ungenauigkeit der Zwölftelregel ansehen. Diese Ungenauigkeit kann sehr groß werden, bis hin zur Unbrauchbarkeit!

Veranschaulichung zur Anwendung der Zwölftel-Regel