Nautisches Lexikon - Gezeitentheorie
ezeiten
sind ein komplexes Thema. Hier wird ein Überblick über die Theorie der Gezeiten bis in
sehr feine Details gegeben, die in dieser Form kaum irgendwo zu finden sind. Für alle
Begriffe siehe auch das Glossar
zu Astronomie und Gezeiten, das in einer separaten Seite zum wiederholten Nachschlagen
offen gehalten werden kann. |
ür die
Erklärung des Phänomens der Gezeiten gibt es im wesentlichen zwei unterschiedliche
theoretische Ansätze: Die Gleichgewichtstheorie nach Newton (älter, einfacher zu
verstehen) und die Wellentheorie nach Laplace (moderner und genauer, aber komplex).
Während man mit der Gleichgewichtstheorie das Phänomen der Gezeiten an sich erklären
kann, braucht man die Wellentheorie, um der Komplexität der Ozeane und Landmassen gerecht
zu werden und die teilweise wilden Erscheinungsformen an den Küsten der Welt zu
beschreiben (eintägige Gezeiten, Zeitverschiebungen, extreme Variationen im Tidenhub
etc.).
1. Gleichgewichtstheorie nach Newton
ies ist
das einfachste Konzept, das man für die Erklärung der Gezeiten entwickeln kann. Newton
schuf die Basis durch die Entdeckung des Gravitationsgesetzes, daher ist es nach ihm
benannt. Trotz seiner Einfachheit (stark idealisierte Annahmen) liefert dieses Konzept
schon eine ganze Menge richtiger Ergebnisse. |
Annahmen:
- Ideal runde Erde
- Reibungsfreier, überall gleich tiefer Ozean ohne Kontinente ("Wasserhülle")
- Die Gegenkräfte der astronomischen Anziehungskräfte äußern sich durch
Druckunterschiede (d. h. unterschiedliche Wasserhöhen = Tidenhub).
- Die Form der Wasserhülle folgt immer ohne Zeitverlust den astronomischen
Antriebskräften (Trägheit des Wassers wird vernachlässigt)
Richtige Ergebnisse:
- Phänomen von Spring- und Nippzeit durch unterschiedliche Stellungen von Erde, Mond und
Sonne zueinander
- Erklärung aller astronomisch bedingten sogenannten "Ungleichheiten"
durch die unterschiedlichen Bahnformen, Periodendauern und Orbitalebenen der
Umläufe von Erde, Mond und Sonne
- Relative Höhen des Tidenhubs (Mond zu Sonne 1 zu 0,46)
Einige falsche Ergebnisse:
- Absolute Höhen: maximale Mondtide 55 cm, maximale Sonnentide 24 cm,
Summe 79 cm. Da ist man bereits von der Nordsee Besseres gewöhnt ...
- Fehlende Phasenverschiebungen der HWZ und NWZ zum Meridiandurchgang des Mondes
(Springverspätung etc.)
2. Wellentheorie nach Laplace
aplace's
Konzept beruht auf der Theorie der Wellen in einem System gekoppelter Oszillatoren. Es
geht von der Grundannahme aus, daß die Ozeane dieser Welt "schwingungsfähige
Wasserschaukeln" sind, die von den astronomischen Gezeitenkräften
(Gravitationskräfte von Mond und Sonne) immer wieder "angestoßen" werden. Da
die "Wasserschaukeln" über breite und schmale Meeresstraßen
"gekoppelt" sind, können sie nicht unabhängig voneinander schwingen, sondern
bekommen einen gemeinsamen Rhythmus aufgezwungen. Diesem Rhythmus folgen die Ozeane
unterschiedlich willig, hier zeigen sich dann die ganzen lustigen Seiteneffekte wie
extremer Tidenhub oder eintägige Gezeit.
Annahmen:
- Das schwingungsfähige System besteht aus einer Reihe von ozeanischen Bassins, besser
oder schlechter aneinander gekoppelt, jedes mit seinen charakteristischen Eigenfrequenzen
und Reibungseigenschaften (Wassertiefe, Uferformation, Temperatur, ...).
- Tiden sind globale Meereswellen, immer wieder angetrieben durch die periodischen
Fluktuationen der astronomischen Gezeitenkräfte.
- Das ganze System ist gut eingeschwungen, aber durch die Schwankungen der Antriebskräfte
bleiben Unregelmäßigkeiten bestehen, und genau diese Unregelmäßigkeiten machen die
Gezeiten so abwechslungsreich.
Ergebnisse:
- Es gibt ein weltweites System progressiver (geradeauslaufender) und rotierender
Gezeitenwellen, die über die Ozeane laufen.
Progressive Gezeitenwellen sind -- wie die durch Wind verursachten Meereswellen -- in eine
Richtung gerichtet, allerdings haben die Gezeitenwellen eine sehr, sehr lange Wellenlänge
(Größenordnung halber Erdumfang).
Rotierende Gezeitenwellen haben stets einen sog. amphidromischen Punkt mit Amplitude 0, um
den mindestens ein Flutberg und ein Ebbetal herumlaufen. Man kann sich das sehr schön
veranschaulichen durch eine waagerecht gelagerte Fahrradfelge, die einen schweren Schlag
hat. Die Nabe hat immer dieselbe Höhe, aber der Felgenrand geht hoch und runter. Gute
Beispiele für rotierende Gezeitenwellen sind die Nordsee und das Schwarze Meer.
- Es kommt zur Überlagerung dieser verschiedenen Gezeitenwellen. Die Gezeitenamplituden
im freien Wasser sind gering (etwa so wie nach der Newton-Theorie), Erhöhung durch
Aufstauung an Küsten, Maximierung durch Resonanz mit der natürlichen Eigenfrequenz des
Bassins.
Beispiel: Bay of Fundy, natürliche Eigenfrequenz ca. 12 h, daher Tidenhub bis 15 m.
- Phasenverschiebungen und Springverspätung kommen richtig heraus
- Erklärung für eintägige Gezeiten: Durch dynamische Ursachen (Eigenschwingungen
bestimmter ozeanischer Becken) wird das niedrigere HW einer eigentlich gemischten Gezeit
(fast) ganz unterdrückt bzw. fällt niedriger aus als die beiden NW.
enn
man über einen langen Zeitraum (viele Jahrzehnte) die Gezeitenkurve eines Ortes
aufzeichnet, kann man über eine sogenannte "Harmonische Frequenzanalyse" die
Frequenzen, Amplituden und Phasen der Schwingungskomponenten ermitteln, aus denen sich die
Gezeitenkurve additiv zusammensetzt. Mit einem knappen Dutzend der stärksten harmonischen
Komponenten kommt man für sinnvolle Vorhersagen schon sehr weit, da sowieso Überlagerung
durch lokale Effekte vorliegt: Wind, Luftdruck, Erwärmung, großräumige
Strömungsänderungen machen millimetergenaue Vorhersagen unsinnig, man beschränkt sich
auf Dezimeter-Genauigkeit.
Früher mit eindrucksvollen "mechanischen Computern" durchgeführt (Kelvinscher Gezeitenrechner), heute auf jedem PC
möglich.
ls
Gezeiten bezeichnet man den regelmäßigen, abwechselnden Anstieg und Abfall der Meeresoberfläche. In
Europa gibt es in der Regel zwei Hochwasser und zwei Niedrigwasser täglich. Verursacht
werden sie hauptsächlich durch die Massenanziehung (Gravitationskraft) des Mondes und der
Sonne auf die Erde. Da der Mond viel, viel näher an der Erde ist als die
Sonne, hat er den etwa doppelten Einfluß der Sonne, obwohl der Mond auch viel
kleiner als die Sonne ist. Für ein grundlegendes Verständnis beginnt man daher am besten
mit den Mondgezeiten.
Die Erde
ist nicht im Weltall festgenagelt, daher wird sie durch die Umlaufbewegung des
Mondes
selbst auf eine kleine Umlaufbewegung gebracht. Der gemeinsame
Schwerpunkt bleibt dabei in Ruhe -- um diesen Punkt kreisen beide, der Mond mit
einem großen Radius, die Erde mit einem kleinen. Die Anziehungskraft des einen Körpers hält den anderen
auf seinem Umlaufkreis, genauso wie ein Gewicht, das an einer Schnur auf einer Kreisbahn
herumgewirbelt wird: Nur der konstante Zug an der Schnur hält das Gewicht davon ab
davonzufliegen. Läßt man los, fliegt das Gewicht von einem weg. Verantwortlich dafür
ist die sogenannte Fliehkraft. Unser System ist jedoch fein austariert: Die
Gravitationskraft (anziehend) ist genauso groß wie die Fliehkraft (wegtreibend),
zumindest gilt das für die Mittelpunkte von Erde und Mond.
Im Gegensatz zur Schnur, die unabhängig von der Länge mit konstanter Kraft zieht,
wird die Gravitationskraft mit zunehmender Entfernung schwächer und mit zunehmender
Annäherung stärker. Die Erde ist vom Durchmesser her groß genug, daß dies an
unterschiedlichen Orten unterschiedlich stark spürbar
wird:
- Die Gravitationskraft und die Fliehkraft sind im Erdmittelpunkt genau gleich groß und
entgegengesetzt.
- Die Gravitationskraft des Mondes wirkt auf der mondzugewandten Seite
der Erde stärker als am Erdmittelpunkt, während die Fliehkraft für alle Punkte der Erde
gleich ist (wichtig!) und natürlich vom Mond weggerichtet. Auf der mondzugewandten
Seite herrscht also Kraftüberschuss in Richtung Mond.
- Die Gravitationskraft des Mondes wirkt auf der mondabgewandten Seite
der Erde schwächer als am Erdmittelpunkt. Da die Fliehkraft auch hier wie überall auf
der Erde den gleichen Wert hat und natürlich vom Mond weggerichtet ist, ist sie größer
als die Gravitationskraft des Mondes. Auf der mondabgewandten Seite
herrscht also Kraftüberschuss weg vom Mond.
Die Kraftdifferenzen sind allerdings so klein,
dass nichts davonfliegt. Aber sie sind doch groß genug, um im Meereswasser
gewisse Verschiebungen zu bewirken: Auf der mondzugewandten Seite häuft sich aufgrund der
überwiegenden Anziehungskraft ein kleiner Wasserberg, auf der mondabgewandten Seite
ebenso aufgrund der überwiegenden Fliehkraft. Das Wasser für diese Wasserberge stammt
aus der Mitte, hier bildet sich rund um die Erde ein Ring mit einem Wassertal.
Mit Sonne und Erde passiert genau das Gleiche, etwa halb so stark. Nun stehen Sonne, Mond
und Erde etwa alle zwei Wochen in einer Linie, und Sonne und Mond ziehen gewissermaßen an
einem Strang: Die Kräfte der beiden addieren sich und lassen die Wasserberge anschwellen,
gleichzeitig wird das Wassertal rund um die Erde entsprechend noch tiefer. Diese
Konstellation nennt man Springzeit. Zwischen den Springzeiten kommen sich Sonne und Mond
in die Quere, weil sie senkrecht zueinander stehen, die Kräfte subtrahieren sich. Der
Mond behält zwar die Oberhand, weil er etwa doppelt so stark ist wie die Sonne, aber er
ist weniger kräftig als wenn er alleine da wäre. Die Wasserberge sind nicht so hoch, das
Wassertal ist nicht so tief. Diese Konstellation nennt man Nippzeit.
olgende Effekte
sind der Schlüssel zum Verständnis der Gezeiten, genau diese Punkte sollen hier
anschaulich, aber wissenschaftlich korrekt beschrieben werden. Daran hapert es in den
meisten anderen Darstellungen. Es reicht im wesentlichen aus, eine Gleichgewichtstide nach
Newton zu betrachten (Gezeit ohne Reibung in einer kontinuierlich den
Kräften folgenden, tiefen Wasserhülle auf einer idealen Erdkugel), wenn man -- wie hier
-- nur die zeitlichen Komponenten und die relativen Höhen
der Gezeiten erörtert. Die Wellentheorie nach Laplace muß erst ins
Spiel gebracht werden, wenn es um Phasenverschiebungen und absolute
Höhen der Gezeiten geht. Das wird hier aber nicht ausführlich erklärt (bis auf
den kleinen Schlenker mit der eintägigen Gezeit).
Hier zunächst die Übersicht, die Details sind in
weiterführende Seiten ausgelagert:
- Ein Gestirn erzeugt zwei Flutberge auf der Erde, einen
auf der zugewandten und einen auf der abgewandten Seite der Erde.
Voraussetzung hierfür ist ein periodischer Umlauf von Gestirn und Erde um den gemeinsamen
Schwerpunkt. Da dies für die Erde nur mit Sonne und Mond der Fall ist, können alle
anderen Gestirne getrost außer acht gelassen werden. Springender Punkt ist hierbei die
für alle Punkte der Erde konstante Fliehkraft durch diese Umlaufbewegung, die dazu
führt, daß die beiden Flutberge etwa gleichgroß sind.
Details ...
- Die Erddrehung ist für das grundsätzliche Phänomen
der Gezeiten völlig unerheblich.
Auch auf einer nichtrotierenden Erde würden sich mit Sonne und Mond Gezeiten ergeben.
Allerdings wären die Effekte sehr schwach ausgeprägt, da die Umlaufgeschwindigkeiten von
Mond (ein Monat) und erst recht Sonne (ein Jahr) ziemlich lang sind. Die starken
Gezeiteneffekte auf der Erde ergeben sich erst durch die Erddrehung, die dafür sorgt,
daß die "Wasserschaukel" an jedem Ort der Erde alle 12,5 Stunden einen mehr
oder weniger großen Anschubs erhält. Diese Frequenz erzeugt in irdischen Dimensionen
viel eher Resonanz und damit Amplitudenverstärkung, siehe oben das Beispiel der Bay of
Fundy.
Es wäre interessant zu wissen, wie die Gezeiten auf der Erde bei geringerer oder
größerer Umdrehungsgeschwindigkeit aussähen. Keine Gezeiten gibt es nur bei Gebundener Rotation (genau eine
Umdrehung pro Umlauf). Aber man erleichtert sich das Verständnis der Gezeiten ungemein,
wenn man den Umlauf von Mond und Sonne einerseits von der Erddrehung andererseits
gedanklich trennt.
Details ...
- Zwei umlaufende Gestirne (Sonne und Mond) erzeugen durch harmonische
Überlagerung eine gemeinsame Gezeitenwelle auf der Erde, als wenn
sozusagen ein kombiniertes Pseudogestirn (Sond? Monne? ;-) um die Erde
läuft.
Das ist durchaus nicht selbstverständlich. Man könnte sich ja auch vorstellen, daß die
von Sonne und Mond erzeugten vier Flutberge unabhängig voneinander existieren und nur zu
bestimmten Zeitpunkten so überlagern, daß je zwei zu einem verschmelzen. Tatsächlich
überlagern sie sich aber permanent in dieser Form. Interessant dabei
ist, daß dieses hypothetische Pseudogestirn nicht mehr gleichförmig um die Erde läuft,
sondern infolge der wechselnden Stellungen von Sonne und Mond mit wechselnder
Anziehungskraft wirkt (mit der Folge von Spring und Nipp)
und auch mit wechselnden Geschwindigkeiten umläuft (mit der Folge von Lagging
und Priming).
Details ...
- Elliptische Bahnen von Sonne und Mond sorgen für periodische
Schwankungen der Gezeitenkräfte, in der Zeit und in der Höhe.
Diese Schwankungen resultieren aus den elliptischen statt kreisförmigen Bahnen der
beteiligten Gestirne sowie aus den unterschiedlichen Stellungen dieser elliptischen Bahnen
zueinander (dies wiederum bedingt durch die unterschiedlich schnellen Umläufe der
Gestirne sowie das Taumeln der Mondellipse im Raum). Das so hehre Kreisen der Gestirne ist
in Wirklichkeit ein Herumeiern ohnegleichen. Aber nicht ohne System ...
In den Gezeitentafeln von Bezugsorten nimmt man diese Schwankungen meist nicht so wahr, da
sie schon eingearbeitet sind. Aber die unterschiedliche Dauer der Mittzeit (2 bis 4 Tage)
rührt daher, und bei der Berechnung der Gezeitenunterschiede der Anschlußorte zu den
Bezugsorten spielen die Schwankungen manchmal eine Rolle.
Details ...
- Die Deklination von Sonne und Mond sorgt für Abweichungen von der
regelmäßigen halbtägigen Gezeit, mit dem Extremfall der eintägigen
Gezeit.
Sonne und Mond stehen im allgemeinen nicht permanent über dem Erdäquator, sondern der
Meridiandurchgang erfolgt während einer Erddrehung einmal nördlich und einmal südlich
des Äquators. Dieser "Breitengrad auf der Himmelskugel" heißt Deklination. Sie
führt dazu, daß ein Ort auf der Erde nicht mehr unbedingt alle 12,5 Stunden einen
Flutberg gleicher Höhe "sieht", sondern dieser Flutberg abwechselnd höher und
niedriger ausfällt. Der Höhenunterschied zweier aufeinanderfolgender Flutberge ist umso
größer, je größer die kombinierte Deklination von Sonne und Mond ist. In Kombination
mit den hydrodynamischen Eigenschaften bestimmter ozeanischer Bassins (Laplace-Theorie)
kann das bis zur völligen Unterdrückung des niedrigeren Flutberges gehen, so daß eine
scheinbar eintägige Gezeit übrig bleibt.
Details ...